Im "Empire Builder" von Seattle nach Chicago (3.550km)



44 Stunden dauert die 2.206 Meilen (3550 km) lange Fahrt mit dem Empire Builder von Seattle nach Chicago. Die ersten fünf Stunden sind schon vorbei und es war und ist großartig. Bisheriges landschaftliches Highlight war das Überqueren der Kaskadenkette, das Highlight der Gesamtstrecke wird wohl morgen früh die Überquerung der Rocky Mountains mit zwei Stopps am bekannten Glacier Park werden.
Die „Superliner“-Waggons von Amtrak sind superbequem, unsere große Scheibe im Obergeschoss erlaubt gute Ausblicke und der Sitzabstand ist für uns Europäer ungewöhnlich groß. Während neben dem Fenster in der Dunkelheit der Columbia River entlang fließt und die zwei Dieselloks vorne durch ihr Hupen immer wieder die nächtliche Ruhe unterbrechen, werde ich langsam versuchen einzuschlafen, um morgen früh die Rockies nicht völlig übermüdet zu erleben.



122 Waggons mit je zwei aufeinander gestapelten Containern, gezogen von vier großen Diesellokomotiven. Das war der erste Gegenzug, bei den anderen habe ich die Waggons nicht mehr gezählt. Güterzüge mit einer Länge von mehreren Kilometern sind in den USA aber kein Zufall, sondern die Regel. Die Bahn hat hier im Güterverkehr einen mehr als doppelt so hohen Marktanteil wie in Europa. Man darf also nicht davon ausgehen, dass die USA kein Bahnland sind, nur weil im Personenverkehr Auto und Flugzeug dominieren. Zwar nimmt die Bedeutung des öffentlichen Verkehrs in den USA v.a. in Verdichtungsräumen seit Jahren zu und es werden große Investitionen in die Infrastruktur getätigt, aber der Personenfernverkehr spielt kaum eine Rolle.
Das war früher anders: bevor Auto und Flugzeug zu Massenverkehrsmitteln wurden, hatte die Bahn auch im Personenverkehr eine große Bedeutung. Noch früher hatte die Eisenbahn auch eine große Bedeutung bei der Erschließung Nordamerikas durch die eingewanderten Europäer. Der Bau der ersten Transkontinentaleisenbahnen ist ein wichtiger Teil der amerikanischen Geschichte. Die Bahnbetreiber haben damals oft den Bahnbau finanziert, indem sie die Grundstücke entlang der Strecke verkauften. Viele Städte verdanken ihre Gründung einzig und allein dem Bau einer Bahnstrecke und der Entscheidung, an einer bestimmten Stelle einen Bahnhof zu errichten. Ein Blick auf die Landkarte zeigt noch heute, dass die meisten Städte im mittleren Westen an einer der wenigen Transkontinentalstrecken liegen.
Eine der bekanntesten Transkontinentalbahnen war und ist die Great Northern Railway von St. Paul nach Seattle, auf der wir seit mehr als 20 Stunden unterwegs sind. Abgesehen von Naturschönheiten wie dem Glacier National Park findet man auch immer wieder Hinweise auf die Geschichte des Bahnbaus. Offensichtliche Hinweise wie eine restaurierte Dampflok ebenso wie versteckte Hinweise, z.B. die Tatsache, dass es abseits von Bahnhöfen keinerlei geschlossene Siedlungen gibt. Und zwei benachbarte Bahnhöfe liegen nicht selten eine Stunde auseinander.




Der Reiseführer sagt, dass es hier, in den High Plains von Montana, mehr Kühle gibt als Menschen und mehr Schafe als Kühe. In Amerika hat einfach alles eine andere Dimension, sogar Langeweile. Die Landschaft hat sich seit Stunden nicht geändert, Siedlungen gibt es wie erwähnt in der Regel nur an den seltenen Bahnhöfen. Man merkt allerdings, dass das Land fruchtbarer wird, je weiter man sich von den Rocky Mountains entfernt. Bei der Fahrt durch das Reservat der Schwarzfußindianer (die wegen ihrer charakteristischen Mokassins diesen Namen tragen) waren wir heute Vormittag noch überrascht von der kargen, fast vegetationslosen Landschaft, in der offensichtlich nur Viehwirtschaft möglich ist. Mittlerweile fahren wir durch landwirtschaftlich geprägtes Gebiet, neben den Äckern selbst erkennt man das auch an vielen alten Getreidesilos entlang der Bahnstrecke. Etwas Abwechslung bringen immer wieder Hügel und Flüsse. Highlight in dieser Beziehung ist der Missouri River, der uns seit kurzem auf der rechten Seite begleitet. Deshalb nehme ich das mit der Langeweile wieder zurück.



Mississippi. Viermal s, dreimal i und zweimal p. Ein schönes Wort für einen schönen Fluss. Es setzt sich aus zwei Worten der Algonquin-Indianer zusammen und bedeutet nichts anderes als „großer Fluss“. Der große Fluss entspringt 90 Meilen südlich der kanadischen Grenze und mündet 2.400 Meilen (fast 4.000km) später bei New Orleans in den Golf von Mexiko. Er durchquert somit die USA von Norden nach Süden.
Zum ersten Mal haben wir den Mississippi heute Morgen zwischen den „twin cities“ St. Paul und Minneapolis gesehen, danach sind wir ihm fast zwei Stunden lang nach Südosten gefolgt. Neben dem Bahnhof von Red Wing stand ein weißer Raddampfer am Ufer, der uns daran erinnert hat, woher wir alle den Mississippi kennen: von den Abenteuern von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Zwar sind die bekannten Geschichten von Mark Twain weiter südlich angesiedelt, aber der Fluss, die Landschaft und vor allem der Baustil der Häuser erinnern sehr an das Klischeebild, dass wir aus den Verfilmungen im Kopf haben.
Der Landschaft unterscheidet sich deutlich von den nördlichen Ebenen, durch die wir gestern gefahren sind. Wenn die Holzhäuser und die viel zu großen Autos nicht wären, könnte man fast denken, man wäre an der Donau oder der Elbe und nicht am Mississippi. Viel Grün, viele Wälder, relativ kleinräumige Land- und Viehwirtschaft, viele Hügel, es sieht fast aus wie in Deutschland. Vielleicht haben sich hier deshalb so viele Deutsche niedergelassen. Viele der Leute, mit denen wir uns in den letzten zwei Tagen unterhalten haben, haben deutsche Vorfahren oder sprechen sogar noch Deutsch. Auf der Landkarte findet man typisch amerikanische Städte wie Karlsruhe, Wittenberg und Humboldt.
Unsere nächsten Zwischenhalte allerdings sind Milwaukee, Glenview und Chicago. Noch etwas mehr als 200km, dann haben wir die 44 Stunden Bahnfahrt hinter uns gebracht und sind wieder in einer Millionenstadt. Eines der Ziele der Bahnfahrt haben wir auf jeden Fall erreicht: wir haben einmal ein Gefühl bekommen für die Größe des Landes.

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